Rosenheim 1992

Rostock, Rosenheim, Kolbermoor – Die rassistischen Gewaltexzesse dürfen nicht vergessen werden (Beitrag als pdf) – Ein Beitrag der Geschichtswerkstatt Rosenheim

Anfang der neunziger Jahre gab es in ganz Deutschland eine Welle rechter Gewalt. In diesen Tagen (Mitte August 2022) wird vielfach an die mehrtägigen Pogrome vor 30 Jahren in Rostock-Lichtenhagen erinnert. Tagelang griffen dort Ende August 1992 hunderte von Rassist:innen und Neonazis mit Steinen und Molotow-Cocktails Häuser an, in denen Geflüchtete und ehemalige Vertragsarbeiter:innen aus Vietnam lebten und setzten das „Sonnenblumenhaus“ in Brand [1]. Knapp 120 Menschen entkamen den Flammen in letzter Minute über das Dach, die Polizei schaute tatenlos zu, tausende Bürger:innen jubelten bei einer „Volksfestatmosphäre“ [2] dem rechten Mob zu, das Fernsehen übertrug live.

Neben den allgemein bekannten rassistischen Gewaltexzesse in Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Solingen, gibt es zahlreiche weitere, oft weniger bekannte Beispiele für rassistische Angriffe in den 1990er Jahren. Zu Unrecht werden diese oft als ein ostdeutsches Phänomen dargestellt: Allein in Bayern wurden 1992 von staatlichen Stellen mindestens 29 Brand- und Sprengstoffanschläge mit „fremdenfeindlichem Hintergrund“ registriert [3]. In diesem Kontext betrachtet werden muss auch ein Sprengstoffanschlag vom 12. Oktober 1992 in Kolbermoor (Landkreis Rosenheim) [4], der hier wieder in Erinnerung gerufen werden soll.

Am Dienstag, den 13. Oktober 1992 berichtete das Oberbayerische Volksblatt (OVB) über den Kolbermoorer Sprengstoffanschlag vom 12.10.1992:

„Auf die Asylbewerberunterkunft in Kolbermoor ist in der Nacht zum Montag mit einer Rohrbombe ein Sprengstoffanschlag verübt worden. Verletzt wurde niemand. Die Polizei vermutet politische Motive als Hintergrund, am Tatort wurden Hetzschriften gegen Asylbewerber gefunden. Auch in Bad Aibling und Heufeldmühle explodierten Rohrbomben des gleichen Typs in unmittelbarer Nähe von Asylbewerberheimen. (…)“

Der Anschlag, bei dessen Detonation die Glasfüllung der Eingangstür zerbarst, ereignetet sich in der Nacht (ca. 1:00 Uhr). Erst am nächsten Morgen wurde die Polizei durch die Hausmeisterin informiert, da sich die Bewohner:innen aus Angst, erschossen zu werden, nicht aus dem Haus trauten und keiner der Nachbar:innen die Polizei rief. Obwohl seit langem (u.a. von der „Sozialbetreuerin“) gefordert, gab es in der Geflüchtetenunterkunft (dem ehemaligen „Hotel Wendelstein“ in der Kolbermoorer Brückenstraße 28) kein Notruftelefon. Die 66 zu dem Zeitpunkt in der Unterkunft lebenden Menschen konnten somit nur tagsüber vom Büro der Sozialbetreuerin aus telefonieren.

Bei den von den Tätern hinterlassenen Hetzschriften handelte es sich um die rassistischen Flugblätter „Der Asylbetrüger in Deutschland“, welche schon länger bundesweit und auch im Landkreis Rosenheim verteilt wurden. Die beiden zum Tatzeitpunkt 20 und 22 Jahre alten Täter Martin K. und Bernd M. aus Kolbermoor wurden zwei Tage nach dem Anschlag gefasst. Da in der Werkstatt des Haupttäters, einem damals 22-jährigen „Postarbeiter“, weitere „Rohrstücke gleicher Bauart“ und Schwarzpulver gefunden wurden, ging die Polizei von weiteren geplanten Anschlägen aus [5]. Auch mehrere Exemplare des am Tatort zurückgelassenen extrem rechten Flugblattes wurden gefunden. Bei seinem Komplizen, einem in derselben Straße wohnenden 20-jährigen Einzelhandelskaufmann, welcher bei der Bundeswehr Zeitsoldat werden wollte, stellte die Polizei „Gewehrpatronen, Schrotmunition und pyrotechnische Gegenstände“ sicher.

Bei dem 1993 stattfinden Gerichtsprozess vor dem Jugendschöffengericht Traunstein kamen die Täter jedoch glimpflich, mit einer Bewährungsstrafe davon. Richter Alois Söldner sah den Anschlag „nicht als politische Tat“ an. Als Bewährungsauflage sprach das Gericht lediglich 40 Stunden gemeinnützige Arbeit, beziehungsweise eine Geldstrafe von 1000 Euro aus. Die Täter beantworteten vor Gericht Fragen zu ihrer politischen Einstellung sehr verharmlosend. Das extrem rechte Hetzplakat „Das Boot ist voll“ habe er „nur wegen der guten Aufmachung“ im Keller aufgehängt, sagte der zum Prozesszeitpunkt 23-Jährige. Und sein 20-jähriger Komplize wollte das Hitlerbild „nur kurz“ im Auto gehabt haben. Der Richter glaubte der Schilderung, nach der die Tat in „bierseeliger Laune“ nach mehreren Diskobesuchen begangen worden sei, auch wenn es mehrere Anzeichen für einen geplanten Anschlag gab: Das Schwarzpulver und die Lunte hatten sich die Kolbermoorer bereits im August in Kufstein gekauft und die Rohrbombe wurde ca. zwei Wochen vor der Tat an der Mangfall getestet. Welche Gefahr von dieser Bombe ausging, verdeutlichten die vor Gericht geladenen Expert:innen. Die rasierklingenscharfen umherfliegenden Metallsplitter [6] hätten den Tod von Menschen bedeuten können. Die Verteidiger der Angeklagten argumentierten mit angeblich „jugendtypischen Zügen“ der Tat und stellten diese als „minder schweren Fall wegen der allgemeinen Grundstimmung in der Bevölkerung“ dar.[7]

Dieser von der Verteidigung als „allgemeine Grundstimmung“ bezeichnete rassistische Normalzustand zeigte sich auch anderweitig in der Region Rosenheim deutlich: Die extrem rechten Republikaner (welche heute bundesweit fast keine Bedeutung mehr haben, aber in Rosenheim auch 2022 noch immer im Stadtrat sitzen [8]) sorgten bei der Europawahl 1989 mit einem überdurchschnittlichem Ergebnis für Aufsehen. Bundesweit erhielt die rassistische Partei rund 7% der Stimmen, im Landkreis Rosenheim jedoch 19,2% in der Stadt Rosenheim 22,1% [9] und in Kolbermoor sogar 29,1%. Auch rechte Anschläge gab es in der Region bereits vor dem Kolbermoorer Bombenattentat. In einem im Januar 1992 von „Rosenheimer AntifaschistInnen und UnterstützerInnen der Flüchtlinge“ verteilten Flugblatt heißt es:

„Am 1. Januar 1992 wurde gegen 3 Uhr auf das Flüchtlingsheim am Rosenheimer Bahnhof ein Brandanschlag verübt. Im Erdgeschoß wurde eine Scheibe eingeschlagen, und brennbare Flüssigkeit im Inneren des Hauses entzündet. Die BewohnerInnen bemerkten zu ihrem Glück die Flammen noch rechtzeitig und konnten sie löschen. Im Falle eines Übergreifens des Brandes auf das ganze Haus, wäre schnelle Hilfe nicht möglich gewesen, denn in diesem Flüchtlingsheim gibt es keinen Telefonanschluß. So hätte es Verletzte oder gar Tote geben können. Dies nahmen die Täter bewußt in Kauf!
Das ist nicht der erste Anschlag auf ein Flüchtlingsheim in Rosenheim. Bereits im Oktober 91 schoß ein Unbekannter mit einem Luftgewehr auf ein Fenster im ersten Stock eines Heimes. Diesen Anschlag entschuldigte die Polizeidirektion Rosenheim damit, daß es möglicherweise ein verärgerter Nachbar war, dem die Musik zu laut gewesen ist. So werden rassistische Angriffe in Rosenheim von der Polizeiführung verharmlost und als Normalität dargestellt.“

Das Flugblatt endet mit den Worten: „Wir stellen uns dem rassistischen Alltag entgegen! Wir wehren uns gemeinsam gegen die faschistischen Angriffe auf AusländerInnen! KAMPF DEM RASSISMUS! SCHAUT NICHT WEG, GREIFT EIN!“

Bild: antifaschistisches Flugblatt aus Rosenheim, Januar 1992, Quelle: Archiv der Geschichtswerkstatt Rosenheim

Eine Aufforderung die leider auch heute, 30 Jahre später, immer noch aktuell ist. Denn die rechte und rassistische Gewalt war nie weg, weder vor den derzeit vieldiskutierten „Baseballschlägerjahren“, noch danach. Das Oktoberfestattentat, die Morde des sogenannten NSU, Hanau, München, Halle und Idar-Oberstein sind nur einige überregional bekannte Beispiele.

Aber auch lokal gab es weitere rechte Anschläge. Erwähnt sei zum Beispiel der Brandanschlag auf die geplante Wohncontainerunterkunft für Geflüchtete 2015 in Bad Aibling, der Brandanschlag auf eine ebenfalls noch unbewohnte Containerunterkunft für Geflüchtete 2016 in Soyen oder die Anschlagserie auf die bewohnte Geflüchtetenunterkunft 2018 in Nussdorf. Gewaltbereitschaft zeigt sich auch ganz aktuell im Umfeld der Bewegung der Pandemieleugner:innen.

Übergriffe sowohl gegen potentielle Gegendemonstrant:innen [10], als auch gegen Journalist:innen [11], gab es Anfang des Jahres auf den unangemeldeten Demonstrationen (sogenannte Montagsspaziergänge) der Pandemieleugner:innen in Rosenheim. Für die kommenden Monate kündigt die verschwörungsideologische rechte Szene einen „heißen Herbst“ an. Dies zeigt, auch im Raum Rosenheim gibt es weiter menschenfeindliche Haltungen und rechte Gewalt. Die für Oktober vom „Bündnis gegen rechte Hetze“ geplante Veranstaltungsreihe „Antifaschismus/Antirassismus bleibt notwendig“ [12] ist deshalb aus Sicht der Geschichtswerkstatt Rosenheim ein notwendiges und wichtiges Zeichen.

1 Die tagelangen Straßenschlachten ereigneten sich in der Zeit vom 22. bis 26./27. August 1992. Höhepunkt war der Angriff auf einen Wohnblock in der Mecklenburgischen Straße 1 bis 12, das „Sonnenblumenhaus“. In dem Hochhaus waren die „Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber“ (ZAST) und ein Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter:innen untergebracht.

2 Berichten zufolge bejubelten bis zu 3.000 Schaulustige die Ereignisse. Die Frankfurter Rundschau beschreibt die damalige Feierstimmung wie folgt: „Als sie sich zu Tausenden draußen zusammenrotteten, sorgte der Imbiss „Happi Happi bei Api“ für Stärkung mit Bratwurst und Bier. (…) Das Flüchtlingswohnheim brennt. Seit mehr als anderthalb Stunden ist kein Ordnungshüter in Sicht. Am Supermarkt steht ein junger Dicker. „Das ist ja hier wie ein Volksfest“, meint er. Ein Rechter sei er, aber nicht radikal. Das hier findet er trotzdem gut. Alles sei locker, fast entspannt. Das Haus brennt weiter, als hätte es nie eine Feuerwehr in Deutschland gegeben“

(https://www.fr.de/politik/rostock-lichtenhagen-1992-so-sind-wir-nicht-wirklich-nicht-91735703.html)

3 Vgl. Kea Tielemann (1993): „Die Erfassung rechtsextremistischer Straftaten – Wirrwarr auf ganzer Linie“ in CILIP Nr. 44 auch online unter https://www.cilip.de/1993/02/22/die-erfassung-rechtsextremistischer-straftaten-wirrwarr-auf-ganzer-linie/#fn9 . Die Zahl von 29 Brand- und Sprengstoffanschläge mit „fremdenfeindlichem Hintergrund“ stammt laut dem Artikel aus einer Presseerklärung des bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 6.1.1993. Ob es eine Dunkelziffer gibt und wie hoch diese ist, können wir nicht benennen. Da der Richter den Anschlag von Kolbermoor nicht als politische Tat wertete, wissen wir aktuell auch nicht, ob dieser unter den 29 Anschlägen erfasst ist oder nicht.

4 Zuvor, am 06. September 1992 gab es in Engelsberg (Landkreis Traunstein) bereits einen „Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim“, bei welchem drei Bewohner:innen verletzt wurden. Vgl. taz (1992): Rassistische Anschläge (Auflistung vom 21.8.1992 – 11.11.1992), https://taz.de/Rassistische-Anschlaege-Auslistung-vom-2181992—11111992/!1643405/

5 Vgl. OVB (16.10.1992): Zwei Mutmaßliche Täter in Untersuchungshaft.

6 Die Täter verwendeten Wasserleitungsrohre aus dem Baummarkt.

7 Vgl. OVB (01.04.1993): Bewährungsstrafen für junge Täter.

8 Nach den Kommunalwahlen 2020 verfügen die extrem rechten Republikaner bayernweit nur noch über Mandate im Landkreis Dillingen an der Donau, in der der Stadt Forchheim und in der Stadt Rosenheim.

9 Wahlergebnisse.info (Jahr unbekannt, vermutlich 2019): Ergebnisse der Europawahlen in den Wahlkreisen, S.16 und S.20. Einsehbar unter: https://www.wahlergebnisse.info/pdf/4000.pdf

10 Am 28.01.2022 wurde in Rosenheim ein Mitglied der Jusos von 15 Querdenkern angegriffen: https://twitter.com/bud_bayern/status/1499357694767083520

11 Am 02.02.2022 gab es körperliche Angriffe auf Fotojournalisten: https://twitter.com/ver_jorg/status/1488962931731673090

12 https://antirassismusbleibtnotwendig.rosenheim.social/